Interview mit Prof. Hengel, Leiter der Virologie an der Uniklinik Freiburg

Wie sind Sie zur Virologie gekommen / Was fasziniert Sie an Ihrer Arbeit? 


Meine jetzige Arbeit am Universitätsklinikum Freiburg vereint die verschiedenen Tätigkeiten eines Wissenschaftlers, Hochschullehrers, Forschers und eines Arztes. All diese Facetten faszinieren mich sehr und ergänzen sich in vielfältiger Weise. Vor allem aber haben mich schon seit meiner Doktorarbeit die Viren selbst eingenommen. Damals habe ich mit einer Arbeit an Herpes Simplex Viren angefangen und seitdem die Welt der Viren immer besser kennen und bewundern gelernt. Bis heute sind sie einzigartige Studienobjekte für mich geblieben. Das herausragende an Viren ist, dass sie ihre Wirte perfekt kennen und dadurch richtige Erkenntnis-Öffner für uns Forscher sind. Sie haben für die Forschung einen einmaligen und unschätzbaren Wert. Man kann durch Viren alle verschiedene Ebenen des menschlichen Lebens betrachten und verstehen. Es beginnt bei einzelnen Molekülen, dann folgen Zellorganellen und die Zellbiologie, bis hin zu den Abläufen in unseren Geweben und Organen, schließlich den Infektionsfolgen für den Körper als Ganzes, bis hin zu Populationen einer oder sogar mehrerer Spezies. Durch das Forschen mit Viren können wir über all diese Facetten immer wieder völlig neue Erkenntnisse gewinnen. Viren begleiten uns schon seit Millionen Jahre und haben die gesamte Evolution und auch unsere Menschwerdung maßgeblich beeinflusst. Heute bin ich davon immer noch so beeindruckt, dass es für mich eine umfassend interessante Erfahrung ist, als Virologe zu arbeiten. Ich lasse mir immer wieder von den Geheimnissen der Viren erzählen und mir dabei die Augen öffnen. 

 

Wieso denken Sie ist Impfen eine so wichtige präventive Maßnahme in der Medizin? 


Es ist wissenschaftlich ausgezeichnet dokumentiert und vollständig unbestritten, dass Schutzimpfungen die erfolgreichste Präventionsmaßnahme der Medizin darstellen. Meiner Meinung nach wird das auch in Zukunft immer so bleiben, denn die Auseinandersetzung mit Erregern ist unser Schicksal und eine lebenslange Aufgabe des Individuums, aber auch eine Daueraufgabe der ganzen Menschheit.


Werden Impfungen wichtiger in Zeiten der Globalisierung? 


Impfungen sind und bleiben wichtig. Man muss sich bewusst machen, dass mit Sicherheit einige neue Impfungen gebraucht werden, denn wir leben in einer globalisierten und sich wandelnden Welt. Durch die heute enorme Mobilität der Menschen kombiniert mit dem Wandel von Klima und Ökosystemen ändert sich nicht nur das Erregerspektrum, sondern auch die Mobilität der Erreger. In Hinblick auf diese Veränderungen braucht es zukünftig noch bessere und schnellere Interventionsmöglichkeiten. Nur so können wir in Zukunft Pandemien verhindern. 


Wird genug an Impfstoffen für Krankheiten, die aktuell eher die 3. Welt und Schwellenländer betreffen, geforscht? Wie werden die Schwerpunkte in der Impfstoffentwicklung gesetzt?


Als Forscher muss ich natürlich feststellen, dass nie genug geforscht wird. Uns Menschen ist ja das Meiste in der Natur unbekannt und nur Weniges ist tatsächlich gut verstanden. Das Unbekannte treibt uns immer weiter an zu forschen. Bei der Impfstoffentwicklung sind Marktmechanismen am Werk und bestimmen wesentlich, woran gearbeitet und was zur Marktreife entwickelt wird. Dabei werden stets solche Projekte vorangetrieben, die für die Unternehmen profitabel erscheinen. Allerdings gibt es heute auch einen zweiten großen Einfluss auf die Impfstoffentwicklung, nämlich den aus Politik, NGOs und der Gesellschaft. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Ebola-Impfstoff. Hier konnte auch ohne einen vielversprechenden Markt und ohne bedeutende Gewinnmöglichkeiten, allein durch wissenschaftliche, politische und humanitäre Impulse, in kurzer Zeit ein Impfstoff entwickelt werden, der nun bereits in Afrika in den aktuellen Ausbruchsgeschehen eingesetzt werden kann. 

 

Was halten Sie von den immer wieder aufkommenden Vorwürfen der Interessenkonflikte von Ärzten mit Pharmaunternehmen? Wie kann man diesen Ihrer Meinung nach am besten begegnen? 


Jeder Arzt und jede Ärztin hat automatisch und unvermeidbar Kontakt mit Pharmaunternehmen. Diese Tatsache ist durch das Ziel der Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten im ganzen medizinischen Bereich vorgegeben, das ist kein Sonderproblem beim Impfen. Allerdings ist es wichtig zu wissen, dass aus dem Zusammenwirken von Industrie und Arzt Gefahren für die Unabhängigkeit des Arztes und für das Vertrauen der Patienten entstehen können. Eine vollständige Transparenz und das objektive, wissenschaftsbasierte Betrachten und Entscheiden medizinischer Sachverhalte sind also eine Grundvoraussetzung der ärztlichen Arbeit. Jeder Arzt und Entscheidungsträger muss sich und seiner Profession gegenüber wachsam, offen und unvoreingenommen sein und sollte sich und sein Handeln kritisch und wissenschaftlich hinterfragen. 

In Deutschland haben wir für die unabhängige und unvoreingenommene Evaluation von Impfungen die Ständige Impfkommission, Stiko, die an das Robert-Koch Institut, einer Bundesbehörde, angegliedert ist. Auf diese Weise ist sie  dem Einfluss der Industrie recht wirksam entzogen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für eine objektive, transparente und ausschließlich wissenschaftlich getriebene Bewertung von Impfungen, und nur positive Empfehlungen der Stiko werden in Impfprogramme umgesetzt. Einige Impfstoffe haben diese Hürde der Stiko übrigens nicht geschafft. Das zeigt, dass die Stiko kein Erfüllungsgehilfe der Industrie und ihrer Interessen ist. In den 10 Jahren meiner Mitgliedschaft in der Stiko konnte ich mich selbst überzeugen, dass es keinen wirksamen Einfluss der Pharmaindustrie auf die Empfehlungen der Stiko gibt und das ist sehr gut so. Einen Kontakt der Impfstoffhersteller im Sinne der Mitteilung, welche Impfstoffe gerade entwickelt werden, darf es dabei gerne geben, aber mehr auch nicht.

 

Wieso denken Sie, gestaltet es sich so schwierig die Empfehlungen in der allgemeinen und sogar der medizinischen Gesellschaft bekannt und populär zu machen?


Ich denke die Stiko erreicht die Ärzteschaft recht gut und hat sich dort eine sehr große wissenschaftliche Autorität und Vertrauen erarbeitet. Aber die Umsetzung der Impfungen in unseren Versorgungsstrukturen ist oft mangelhaft. Bei der HPV-Impfung für Jugendliche zum Beispiel erreichen wir 60% der Jugendlichen nicht, ob wohl diese Impfung sehr sicher ist und vor Krebserkrankungen und Tod schützt. Dies liegt meiner Meinung nach nicht an der Unkenntnis oder dem Unwillen der Ärzteschaft zu impfen, sondern am Fehlen geeigneter Instrumente und Strukturen, um diese Zielgruppe zu erreichen. In Australien beispielsweise ist die Impfquote bei der HPV-Impfung enorm hoch, da dort ein Schulimpfprogramm durchgeführt und sehr gut umgesetzt wird. Das fehlt in Deutschland, leider.

 

Wie empfehlen Sie Impf-Zweifeln zu begegnen?


Die Ursprünge der Impfzweifel sind individuell, und man muss zwischen Impfzögerlichkeit und Impfgegnerschaft unbedingt unterscheiden. Auf der wissenschaftlichen Ebene gibt es keinen Anlass, um an den von der Stiko empfohlenen Impfungen zu zweifeln. Daher denke ich, dass man der Impfzögerlichkeit der Menschen persönlich und ursachen-spezifisch begegnen muss. Man muss also die Ursachen der einzelnen Zweifel und das Individuum genauer kennen, um dem Problem begegnen zu können. Zweifel haben im Übrigen auch etwas Gutes, denn sie entstehen aufgrund von Interesse. Das ist eine gute Basis, um Menschen zu überzeugen und zu gewinnen. Gleichgültigkeit und Ignoranz sind viel schlechtere Voraussetzungen!


Andererseits ist aber auch zu sagen, dass Impfungen als Präventionsmaßnahme am gesunden Menschen ganz besonders sicher sein müssen. Impflinge sind in der Regel vollkommen gesunde Menschen und keine erkrankten Patienten, das ist ein entscheidender Unterschied zu anderen Bereichen der Medizin. Es müssen daher viel strengere Maßstäbe bei den Nebenwirkungen gelten als für Interventionen bei Erkrankten. Weil wir einer möglichen Krankheit vorbeugen wollen, sind sehr hohe Ansprüche an die Sicherheit der Impfstoffe selbstverständlich und absolut gerechtfertigt. Diesem hohen Sicherheitsanspruch wird in immer besser Weise entsprochen, wobei internationale Vorgaben der europäischen und US-amerikanischen Zulassungsbehörden gelten. Die modernen Impfstoffe von heute sind sehr gut erforscht bevor sie auf den Markt kommen. Nach den aufwändigen Zulassungsverfahren folgt dann die dauerhafte Überwachung bezüglich des Auftretens von meldepflichtigen Nebenwirkungen, die sogenannte Pharmako-vigilanz. Diese sorgt für weitere Sicherheit. Neu erkannte Sicherheitsprobleme und Nebenwirkungen werden auf diese Weise bemerkt und ziehen entsprechende Konsequenzen nach sich. Dies kann bis zum Widerruf der Zulassung eines Impfstoffs gehen, wie es in der Vergangenheit bereits passiert ist. Durch das Infektionsschutzgesetz sind in Deutschland die Meldepflicht von erheblichen Nebenwirkungen und die Überwachungsmaßnahmen vorgeschrieben und werden durch die Berichte des Paul-Ehrlich-Instituts für jeden Bürger nachprüfbar und transparent umgesetzt. Durch diese Regularien sind Impfstoffe heute  sicherer als alle anderen Interventionen in der Medizin.  

Die Impfgegnerschaft ist ein anderes Problem als die Impfzögerlichkeit. Impfgegner gibt es in vielen wohlhabenden Ländern, und in anderen Ländern mit geringer Bildung der Bevölkerung werden Impfungen politisch oder religiös instrumentalisiert. Die Geschichte der Impfgegner in Deutschland ist lang und hat politische Wurzeln. Bereits bei der Einführung der verpflichtenden Pockenimpfung im 19. Jahrhundert bildeten sich Gruppen, die aus politischen und religiösen Gründen gegen den Impfzwang des autoritäten Staats dieser Zeit mobil machten. Bereits damals haben sich politische, weltanschauliche und medizinische Motive vermischt. Die eigentlich medizinische Zielsetzung der Impfpflicht wurde auf diese Weise zum Gegenstand  der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung. Die Pocken-Impflicht vor 200 Jahren hat also dazu geführt, dass eine Verweigerung der Impfung aus politischen Motiven populär werden konnte. Diese Haltung hat sich auf die nachfolgenden Generationen übertragen und erklärt, weshalb die Impfskepsis bis heute in bestimmten Gegenden Deutschlands stärker verbeitet ist. 

 

Wie stehen Sie zu der aktuellen Impf-Pflicht Debatte? 


Ich persönlich glaube nicht, dass eine Impfpflicht notwendig ist und ein notwendiges und langfristig wirksames Instrument darstellt, um die Masernelimination zu erreichen und die vielen anderen Impflücken in Deutschland zu schließen. Ich denke, dass andere Ansätze wie zum Beispiel Opt-out Regelungen zu einer Verbesserung der Impfbeteiligung führen könnten ohne die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen einzuschränken. Wichtig bei der Debatte um eine Masern-Impfpflicht ist, dass die Hälfte der Masern-Erkrankungen bei Erwachsenen auftreten. Hier ist die Durchsetzung einer Impfpflicht viel schwieriger. Von daher denke ich, dass eine Impfpflicht für Kinder nicht wirklich zielführend ist.


Für Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten, gibt es meiner Meinung nach aber eine moralische und berufsethische Impfpflicht. In der Tat denke ich, dass es hier andere Maßstäbe geben muss. Das Arbeitsethos der Beschäftigten im Gesundheitswesen verlangt, dass sie alles dafür tun um ihre Patienten nicht zu gefährden. Daher sollten die Arbeitgeber endlich dafür Sorge tragen, dass ihr Personal optimal geimpft ist, um nosokomiale Infektionen so gut wie möglich zu vermeiden.

 

Was sehen Sie persönlich als wichtigste Ziele in den nächsten Jahren in Bezug auf das Impfen?


Ich glaube es gibt viele wichtige Herausforderungen. Natürlich steht die Entwicklung neuer und besserer Impfstoffe im Vordergrund. Außerdem existiert eine weitere wichtige Herausforderung, nämlich die existierenden Impfprogramme den dynamischen Veränderungen der Infektionsepidemiologie in den Bevölkerungen immer wieder neu anzupassen und international zu harmonisieren. Dazu braucht es Surveillance, also kontinuierliche Überwachung, und aktive Forschung. Man muss sich ja bewusst machen, dass viele Impfprogramme noch relativ neu sind und wir sie daher in ihrer Wirkung  evaluieren und gegebenenfalls verändern müssen. Schließlich müssen wir uns klar machen, dass Infektionserreger nicht statisch, sondern ein „moving target“ sind, d.h. sie reagieren auf unsere Impfprogramme und wir befinden uns im Wettbewerb mit ihnen. Wir müssen also besser und schlauer sein als die Erreger. Der Bevölkerung diese Änderungen und Entwicklungen zu vermitteln und zu erklären ist eine wichtige und anspruchsvolle Aufgabe der wissenschaftlichen Entscheider und der Ärztinnen und Ärzte in einem modernen Gesundheitssystem.